Offener Brief der Sprecher*innen der Berliner Roma* und Sinti* im Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen: Anfrage an Innensenator Andreas Geisel

Berlin, 19. August 2020

Sehr geehrter Herr Senator Geisel,

als Sprecher*innen der Berliner Roma* und Sinti* im Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen sind wir zutiefst besorgt: In den vergangenen Wochen erreichten uns Nachrichten über vier Sammelabschiebungen aus Berlin in die Republik Moldau (Moldawien), die am 15. und 30. Juli sowie am 11. und 18./19. August 2020 stattfanden. Mehrere hundert Menschen wurden Berichten zufolge abgeschoben, darunter viele Familien mit Kleinkindern, schwerkranke Menschen und Menschen mit Behinderungen. Konkret soll es sich z.B. um eine krebskranke Frau gehandelt haben, die sich zum Zeitpunkt der Abschiebung in Chemotherapie befand und sichtbar ein Stoma-Beutel trug, sowie eine Frau im Rollstuhl. Somit Menschen, die entsprechend  Art. 21 der EU-Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) den besonders schutzbedürftigen Geflüchteten angehören. Die EU-Aufnahmerichtlinie macht es zur Aufgabe der Mitgliedstaaten, besonders schutzbedürftige Geflüchtete zu identifizieren und angemessen zu versorgen. Als Ziel wurde gesetzt, die Gesundheit der Personen wiederherzustellen bzw. aufrecht zu erhalten sowie die Benachteiligung der genannten Personengruppen auszugleichen.

Leider haben wir den Eindruck gewonnen, dass gerade bei den Geflüchteten aus Moldawien, die maßgeblichen Prozesse zur Identifizierung von besonders Schutzbedürftigen und deren medizinische Belange im Zuge von Asylschnellverfahren nicht genügend Beachtung finden. Auch wenn die Bearbeitung von Asylverfahren durch das BAMF und nicht durch das Land Berlin erfolgt, sind wir der Ansicht, dass bei Rückführungen nach Ablehnung des Asylantrages die gesundheitlichen Einschränkungen der abzuschiebenden Geflüchteten mehr Beachtung finden und Abschiebungen bei gesundheitlichen Einschränkungen wie geschildert, nicht durchgeführt werden.

Ein weiterer Punkt der Abschiebungen der letzten Wochen, der unsere Kritik findet, ist die Trennung von Familien bei der Rückführung.

Bei einer Abschiebung am 30. Juli wurde ein 24-jähriger Familienvater mit zwei kleinen Kindern (1 und 3 Jahre alt) abgeschoben, während sich die Mutter der Kinder im Krankenhaus aufhielt. Im anderen Fall wurde ein Familienvater abgeschoben, während seine Familie in Berlin verblieb, da sie zum Zeitpunkt der Abschiebung in der Unterkunft nicht aufgefunden wurde. Das jüngste der gemeinsamen Kinder der Familie ist drei Jahre alt. Die Trennung von Familien führt zu weiteren Traumata bei Menschen, die ohnehin bereits in ihrem Heimatland Ihrer Zugehörigkeit zu Roma* durch ihre Diskriminierung traumatisiert wurden.

 

Nicht nachvollziehbar ist, dass die abzuschiebenden Asylbegehrenden von der Polizei nachts im Schlaf geweckt und abgeholt werden – so nach unseren Informationen am 15. Juli 2020 und 11. August 2020 geschehen. Unseres Ansicht nach besteht hier ein Verstoß gegen den § 58 Abs. 7 AufenthG.

Unseres Erachtens muss bei Rückführungen auch die Situation des Heimatlandes beachtet werden. Derzeit wird die Republik Moldau vom Robert-Koch-Institut als ein Covid-19-Risikogebiet eingestuft. Aktuell gibt es in Moldau 7.996 mit Covid-19 nachgewiesen infizierte Personen, was bei der Bevölkerungsgröße von 3,5 Millionen einer infizierten Person je 510 Einwohner*innen entspricht. Die Dunkelziffer der nicht getesteten Infizierten dürfte noch höher liegen. Zum Vergleich: Im ähnlich bevölkerungsreichen Berlin gibt es aktuell 1.129 Infizierte, also eine infizierte Person je 3.300 Einwohner*innen (Stand am 19.08.2020, Quelle: https://coronalevel.com/de/Moldova/).

Laut unserer Beobachtung sowie der Erfahrungen relevanter Akteur*innen wie etwa dem Flüchtlingsrat Berlin bilden Roma* eine deutliche Mehrheit der Asylsuchenden, die aus der Republik Moldau nach Deutschland kommen. Laut dem Bericht der Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, vom Juni 2020 gehören Roma* zu den am meisten bedrohten Bevölkerungsgruppe Moldawiens. In diesem Zusammenhang ist insbesondere der bezeugte limitierte Zugang zur medizinischen Versorgungäußerst besorgniserregend. Etwa 60% der Roma* leben in Moldawien in ländlichen Gebieten, oft ohne fließendes Wasser, Sanitäranlagen oder Heizung. Die Einhaltung der notwendigen Hygieneregeln ist unter solchen Bedingungen unmöglich. Die Abschiebung von kranken und behinderten Menschen in eine solche Situation gefährdet deren Gesundheit und kann für die Betroffenen lebensgefährlich sein. Dass rassistische Diskriminierung die Ursache solcher Zustände überall in Europa ist, wurde mittlerweile wiederholt festgestellt und wird in dem EU-Rahmen für Inklusion von Roma* berücksichtigt.

Angesichts der beschriebenen Berichte und Zustände bitten wir Sie, die folgenden Fragen zu beantworten:

  1. Wie viele Personen wurden jeweils am 15. und 30. Juli 2020 sowie 11. und 18./19. August 2020 von Berlin in die Republik Moldau abgeschoben?
  2. Wie viele davon befanden sich bei der Abschiebung in Berlin in einer medizinischen Behandlung, wiesen Merkmale besonders Schutzbedürftiger auf, bzw. schwerwiegende Krankheiten? Wie und durch wen wurde die Flugtauglichkeit festgestellt? War ein*e Mitarbeiter*in der Abschiebebeobachtung der Caritas Brandenburg zugegen und wurde insoweit interveniert?
  3. Wie wird die notwendige medizinische Behandlung dieser Personen in der Republik Moldau sichergestellt prinzipiell bzw. während der Corona-Pandemie sichergestellt?
  4. Zu welchen Uhrzeiten wurden die Betroffenen am 15. und 30. Juli, bzw. am 11. und 18./19. August 2020 von der Polizei abgeholt? Inwiefern erachtet die Senatsverwaltung Abholungen zur Nachtzeit unter Beachtung des Verbots lt. § 58 Abs. 7 AufenthG für zulässig?
  5. Gab es unter den Abschiebungen der benannten Daten Fälle von Familientrennungen? Wenn ja: Um welche Familienkonstellationen (wer wurde abgeschoben, wer nicht, Alter der betroffenen Kinder und Eltern) handelte es sich dabei?
  6. Befanden sich unter den Abgeschobenen auch Personen, die bereits einer freiwilligen Ausreise zugestimmt und einer Beihilfe für die Rückkehrbeantragt haben? Wenn ja: Um wie viele Personen handelte es sich und warum wurden diese Asylbegehrenden trotz ihrer Zustimmung zur freiwilligen Rückkehr abgeschoben? Bitte nach den beiden Abschiebeterminen aufschlüsseln
  7. Wird die aktuelle Zahl der aktiven Covid-19-Infizierten in der Republik Moldau bei der Entscheidung, Abschiebungen in dieses Land durchzuführen, berücksichtigt und wenn ja, wie?
  8. Wird die rassistische Diskriminierung von Roma* in der Republik Moldau bei der Entscheidung, Abschiebungen in dieses Land durchzuführen, berücksichtigt und wenn ja, wie?

Vielen Dank für Ihre Auskunft,

mit freundlichen Grüßen

Hamze Bytyçi

und

Milena Ademović

Sprecher*innen der Berliner Sinti* und Roma*
im Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen