Offener Brief an

S.E. Andrij Melnyk
Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter
Albrechtstraße 26
10117 Berlin

Berlin, 27. Juni 2018

Eskalierende Gewalt gegen Roma in der Ukraine

Sehr geehrter Herr Botschafter,

seit dem 21. April 2018, an dem die ukrainische rechtsextreme Gruppe S14 nahe der ukrainischen Hauptstadt einen gewaltsamen, pogromartigen Übergriff gegen Roma verübte, verfolgen wir mit wachsender Sorge die Situation der Roma-Minderheit in der Ukraine.

In der Nacht vom 9. auf den 10. Mai brannten etwa 30 maskierte Männer eine Roma-Siedlung bei Lemberg nieder. Am 22. Mai überfielen 20 – teils minderjährige – Personen mit Schusswaffen einen Roma-Tabor (sieben Erwachsene und ungefähr 30 Kinder) bei Ternopil. Am 7. Juni wurde im Holosiwskyi-Park in Kiew ein Romalager zerstört.

In einem Brief  vom 7. Mai haben die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der RomaTrial e.V. Sie dazu aufgefordert, solche barbarischen Übergriffe nicht zu dulden und alles in ihrer Macht stehende zu tun, dass sich betroffene und alle anderen Roma in der Ukraine sicher fühlen können.

In Ihrer Antwort vom 25. Mai nennen Sie die Vorfälle nicht tolerierbar und verweisen auf eine entsprechende Aussage Ihres Innenministers. Mögliche Täter scheint dies jedoch nicht erreicht zu haben und den Betroffenen hilft es ebenso nicht. Der Folgebrief der Stiftung Denkmal vom 13. Juni blieb bisher unbeantwortet.

Die Situation verschärft sich immer mehr und erreichte am 23. Juni ihren tragischen Höhepunkt: Bei einem Überfall auf ein Roma-Lager in der Westukraine sind ein Mensch getötet und vier verletzt worden. Vermummte griffen das Lager nahe der Stadt Lwiw mit Baseballschlägern und Messern an, wie die Regionalpolizei am Sonntag mitteilte. Sieben mutmaßliche Beteiligte seien festgenommen worden. Eine Frau, ein Mann und ein zehnjähriger Junge seien mit Stichverletzungen in Krankenhäuser gebracht worden.

Wie sich herausstellt, scheinen einige der Gruppen, von denen die rechte Gewalt gegen Roma hervorgeht, dem ukrainischen Staat durchaus bekannt zu sein und von der Regierung toleriert zu werden:

Für den Übergriff am 7. Juni waren Angehörige der »Nationalbürgerwehr« verantwortlich, die im Januar 2018 durch die Veteranen des rechtsradikalen »Asow-Regiments« ins Leben gerufen wurde. Am 6. Juni haben sie den Roma aus Holosiwskyi-Park auf Facebook ein Ultimatum eingeräumt, ihre Siedlung innerhalb von 24 Stunden zu räumen. »Wenn die Polizei nicht handelt, übernimmt die Nationalbürgerwehr die Kontrolle«, schrieben sie dazu. Trotz der öffentlichen Ankündigung unterband die Polizei die Tat nicht. Der Übergriff wurde gefilmt und auf Facebook übertragen. Dass erneut wegen »groben Unfugs« ermittelt wird, zeugt von einer grundsätzlich falschen Einschätzung der Tat.

In einer Sendung vom 25. Juni berichtet der Deutschlandfunk sogar über Meldungen, wonach Geld aus dem ukrainischen Staatshaushalt an die rechtsradikale Organisation S14 vergeben wurde – unter anderem für ein Jugendlager – die an der Zerstörung des Roma-Zeltlagers am 21. April in Kiew beteiligt war.

Wir, die Unterzeichnenden, sehen es als unsere besondere Pflicht an, die deutsche und europäische Öffentlichkeit über die eskalierende Gewalt gegen Roma in der Ukraine zu informieren und die zuständigen ukrainischen Organe dazu aufzurufen, den Betroffenen Gerechtigkeit zu Teil werden zu lassen. Während der deutschen Besatzung wurde etwa die Hälfte der ukrainischen Roma-Bevölkerung – schätzungsweise 9.000 Kinder, Frauen, Männer, ganze Familien und Gemeinschaften – erschossen. Diese Verbrechen erlegen uns eine besondere Verantwortung auf.

Wir sind zutiefst erschüttert und beunruhigt, dass die ukrainischen Behörden den Roma keinen Schutz bieten. Jenseits der Aufklärung und Ahndung der bisherigen Gewalttaten durch die Polizei und Justiz müssten dringend Maßnahmen ergriffen werden, die die Sicherheit der Roma in der Ukraine gewährleisten. Die Aktivitäten von Gruppen, die bekanntlich rechtsextreme Ansichten haben, müssen sorgfältig beobachtet werden. Gerade in dieser zugespitzten und gefährlichen Situation bedürfen die Betroffenen einer praktischen und einer moralischen Solidarität.

Mit freundlichen Grüßen verbleiben

Uwe Neumärker
Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Hamze Bytyçi
Vorsitzender des RomaTrial e. V.

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