Rassismus und Klassismus in den Corona-Zeiten: Roma* als Lackmustest unserer Gesellschaft

„Das Virus kennt keine Herkunft, es trifft uns alle gleich.“ Diesen Satz hat man zu Beginn der Covid-19-Pandemie immer wieder gehört und gelesen. Doch mittlerweile ist klar, dass besonders rassistisch diskriminierte Menschen und Menschen mit Migrationsgeschichte weltweit besonders stark betroffen sind.

In den USA beispielsweise erkranken Schwarze Menschen überproportional häufig an Covid-19 und sterben auch öfter an dem Virus als weiße. In Deutschland ist aktuell die größte ethnische Minderheit Europas besonders hart betroffen: Vor allem Roma* mit Migrationsgeschichte werden infiziert und ohne  Faktengrundlage beschuldigt, das Virus zu verbreiten und so zum Sündenbock gemacht. Solche Denk- und Handlungsmuster erkennen wir leider wieder und sie erinnern uns an ganz dunkle Zeiten. Die Hoffnung, dass Deutschland bei der Bekämpfung von Rassismus und Antiziganismus besser ist als  beispielsweise die Balkan-Länder, aus denen Roma* oft fliehen müssen, löst sich schnell in Luft auf. Dabei ist es egal, welche Code-Wörter Politik, Staat und Presse verwenden: „Roma“, „Rumänen und Bulgaren“, „EU-Bürger“ oder „Wanderarbeiter“ – alle wissen, wer gemeint ist. In der Regel wird aber nur ein Teil der Wahrheit dargestellt. Die entscheidenden Tatsachen fehlen oft.

Corona-Hotspots: viele Menschen, wenig Platz, kaum Schutz

Es fing Anfang Juni im sogenannten Iduna-Haus in Göttingen an: Die Leiterin des örtlichen Krisenstabes erklärte die dort lebenden muslimischen Roma-Familien kurzerhand für selbst schuld, da sie sich bei privaten Feiern anlässlich des Zuckerfestes gegenseitig angesteckt haben sollten. Laut den Betroffenen gab es solche Feiern nicht. Vielmehr hatten sie selbst schon Tage vor dem Virusausbruch erfolglos auf einen positiv getesteten Mann aufmerksam gemacht, der immer wieder die ihm auferlegte Quarantäne brach. Doch der größte Teil der Medien  manipulierte die Zeugenaussagen der Betroffenen. Ganze Teile, die nicht ins Bild der „verantwortungslosen Roma“ passten, wurden ausgeschnitten.

Eine sehr ähnliche Entwicklung folgte eine Woche später hier in Berlin, in Neukölln: Hier wurden mehrere Häuser unter Quarantäne gestellt, in denen (nicht nur) Roma* wohnen. In den Medien bezeichnete der zuständige Stadtrat Falko Liecke (CDU) Roma* als „schwierige Bevölkerungsgruppe“. Man vermittelte den Eindruck , dass sie besonders undiszipliniert und unverantwortlich seien: „Bisher sind die Hauseingänge unbewacht. Ob sich alle Bewohner an die Quarantäne halten?“ (Berliner Morgenpost).

Solche pauschalen Aussagen, die sich auf eine ethnische Gruppe beziehen, sind rassistisch. Darüber hinaus bedient der Vorwurf der Disziplin- und Verantwortungslosigkeit alte, tiefsitzende antiziganistische Klischees. Deren Heraufbeschwören befeuert gewaltbereiten Hass und erhöht das Risiko gewaltsamer Übergriffe auf die nun öffentlich bekannten Wohnhäuser und deren Bewohner*innen: Kinder, Frauen und Männer. Ob die Maßnahme richtig ist, ganze Häuser mit vielen unabhängigen Haushalten und voneinander getrennten Wohnungen unter Quarantäne zu stellen, ungeachtet dessen, ob die jeweiligen Haushalte Kontakte zu Infizierten hatten oder nicht, ist fraglich.  Auf die individuellen Grundrechte scheint bei den stigmatisierten Bewohner*innen der Häuser keine Rücksicht genommen zu werden.

Den traurigen Höhepunkt erreichte die Hetze gegen Roma* in Gütersloh. Bei dem Fleischverarbeiter Tönnies gibt es weit über 1.000 Infizierte. Als Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) von der ZDF-Journalistin Nicole Diekmann gefragt wurde, was denn der Corona-Ausbruch über die Lockerungen aussage, antwortete er spontan: „Das sagt darüber überhaupt nichts aus. Weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt.“

Seine Aussage war durch keinerlei Fakten belegt, dafür durch jahrhundertealte antiziganistische Vorurteile gefüttert. Die Vertragsarbeiter*innen konnten sich genauso erst in Deutschland angesteckt haben, wo sie dem Virus – zusammengepfercht in überfüllten Unterkünften und bei der Arbeit – völlig schutzlos ausgeliefert sind. Wie Menschen zweiter Klasse. Ironischerweise hat Laschet mit seinen weiteren Aussagen genau dies bestätigt: „Unsere Aufgabe ist es zu verhindern, dass das Virus in die Bevölkerung überspringt.“ Damit machte er beiläufig klar, wer aus seiner Sicht zur Bevölkerung zählt und wer nicht.

Gesellschaftliche Stigmatisierung, fehlende Menschenwürde

Es wird daher immer deutlicher: Die Covid-19-Infektion trifft uns nicht alle gleich. Es gibt viele Bevölkerungsgruppen in unserer Gesellschaft, die dem Infektionsrisiko besonders stark ausgesetzt sind und bei denen es die Verantwortlichen nicht schaffen, für ihren gesundheitlichen Schutz und damit die Gewährleistung ihrer Menschenwürde zu sorgen: arme Menschen in engen Unterkünften, die zum Teil eine gesundheitsgefährdende Arbeit machen. Besonders trifft das auf Menschen zu, die rassistisch diskriminiert werden.  Die aktuellen Hotspots zeigen außerdem, dass Roma* zum Schluss auch noch selbst zu den Übeltäter*innen erklärt werden, die das Virus angeblich einschleppen und verbreiten.

Diese Art von Sündenbockkampagne lenkt von den Themen ab, um die es eigentlich gehen sollte: Warum leben so viele Menschen auf engem Raum zusammen? Warum gibt es zu wenig bezahlbaren Wohnraum in unseren Städten, wie in Berlin? Warum wird auf der Arbeit oft nicht für ausreichenden Gesundheitsschutz gesorgt? Warum werden Menschen nicht massenhaft auf das Coronavirus getestet?

Die Alarmglocken müssen jetzt läuten. Die Geschichte lehrt uns, dass Roma* immer schon als erste dran waren, wenn Gesellschaften nach rechts abdrifteten. Wie eine Art Lackmustest der Demokratie und einer Staatsordnung, in der Menschenrechte zählen. Die Entwicklungen der letzten Wochen erfüllen uns mit tiefer Sorge. In Göttingen werden mittlerweile Häuser durch Zäune abgeriegelt, gegen die verzweifelten Bewohner*innen setzt die Polizei Tränengas ein. Am 20. Juni verstarb in einem der Häuser ein Mann an Atemnot. Seine Lebensgefährtin hat durch den Zaun vergeblich um Hilfe gebeten – die Rettungskräfte kamen erst nach einer Stunde, als es zu spät war.

Das sind keine Zustände, in denen wir leben wollen. Solidarität mit Roma* und mit allen anderen rassistisch diskriminierten Menschen! Es darf keine Zwei-Klassen-Gesellschaft geben, insbesondere in Pandemiezeiten nicht! Bezahlbaren Wohnraum schaffen – in Berlin zum Beispiel durch das Volksbegehen Deutsche Wohnen enteignen. Betriebe müssen für Infektionsschutz sorgen oder geschlossen werden.

#Act4RomaLives #BlackLivesMatter