Berlin, den 18. Juni 2020

 

Sehr geehrter Herr Liecke,

wir wenden uns an Sie als Initiatoren des Bündnisses für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas, in dem sich seit 2015 fast 30 Organisationen – von Amnesty International und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes über die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas bis zum Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sowie dem Zentralrat der Juden in Deutschland – gegen den Antiziganismus engagieren.

Das mediale Bild von Roma-Bewohnern Neuköllns, Spandaus und anderer Bezirke, das seit einigen Tagen medienwirksam und breitflächig gezeichnet wird, jedoch vor allem auf Aussagen und Handlungen der Neuköllner Behörden und Politiker basiert, verstört uns zutiefst. In den Beiträgen werden Roma explizit oder latent durch kodierte Sprache, als »schwierige Bevölkerungsgruppe« stigmatisiert. Es wird der Eindruck vermittelt, dass sie besonders undiszipliniert und unverantwortlich seien: »Die Überprüfung der Quarantäne ist ein Knackpunkt.« (Zitat des Stadtrats Liecke) oder »Bisher sind die Hauseingänge unbewacht. Ob sich alle Bewohner an die Quarantäne halten?« (Berliner Morgenpost).

Solche pauschalen Aussagen, die sich auf eine ethnische Gruppe beziehen, sind rassistisch. Darüber hinaus bedient der Vorwurf der Disziplin- und Verantwortungslosigkeit alte, tiefsitzende antiziganistische Klischees. Deren Heraufbeschwören befeuert gewaltbereiten Hass und erhöht das Risiko gewaltsamer Übergriffe auf die nun öffentlich bekannten Wohnhäuser und deren Bewohner: Kinder, Frauen und Männer.

Doch es geht nicht nur um das mediale Bild und die Reproduktion gefährlicher Vorurteile. Auch die Tatsache, dass ein solcher radikaler Eingriff in die persönlichen Grundrechte und die Freiheit der betroffenen Menschen pauschal angeordnet wird, ohne individuelle Möglichkeiten des Schutzes vor der Infektion erarbeitet zu haben, empfinden wir als höchst alarmierend. Nicht zuletzt durch den Kontakt mit vielen Betroffenen wissen wir, dass verschiedene Haushalte mit dem Infektionsrisiko unterschiedlich umgehen – so wie es überall, und mittlerweile meist sehr sorglos, der Fall ist. Natürlich müssen Infektionsherde aufgedeckt und eingedämmt werden. Doch anstatt eines Generalverdachts und derartiger Kollektivmaßnahmen sollten individuelle Kontaktketten nachverfolgt werden, wie es üblich ist. Die gewählte Vorgehensweise, ganze Häuser mit vielen unabhängigen Haushalten und voneinander getrennten Wohnungen unter Quarantäne zu stellen, ist selbstverständlich nachvollziehbar – allerdings nicht, wenn sie durch diffuse, rassistische Vorstellungen von Roma-Großfamilien oder Clans beherrscht wird.

Wir fordern Sie daher auf, alles Ihnen Mögliche zu tun, um der öffentlichen Stigmatisierung der Roma Neuköllns und anderswo entgegenzuwirken, um diese Menschen vor gewaltbereiten Übergriffen zu schützen und um die Freiheitsrechte möglichst vieler Personen zu gewährleisten. Denn für alle in Deutschland lebenden Menschen, Staatsbürger oder nicht, gilt Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Mit freundlichen Grüßen

 

Uwe Neumärker
Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

 

Hamze Bytyçi
Vorstandsvorsitzender des RomaTrial e.V.

 

nachrichtlich:

Christine Richter (Chefredakteurin Berliner Morgenpost),
Miriam Krekel (Chefredakteurin B. Z.),
Julian Reichelt (Chefredakteur Bild),
Kurt Kister, Wolfgang Krach (Chefredakteure Süddeutsche Zeitung),
Senatorinnen Dilek Kalayci und Sandra Scheeres,
Frau Dipl.-Med. Widders (Leiterin des Gesundheitsamtes Spandau),
Herr Dr. Morawski (Leiter des Gesundheitsamtes Neukölln)