Mo, 31.März 2014
Unsere Lesereihe slowakischer, tschechischer und ungarischer Autorinnen und Autoren mit Roma-Hintergrund, die am 25.10.2013 in Basel startete und insgesamt acht Städte (Basel, Zürich, Berlin, Halle/Saale, Dresden, Düsseldorf, Bremen und Achim) besuchte, ging letzte Woche zu glücklichem Ende.
Damit wurde nicht nur der erste Schritt auf dem Entdeckungsfeld “Roma-Literatur aus Mittel- und Osteuropa” getan: Viel mehr ging es darum, über den Gebrauchswert der sogenannten “Roma-Literatur” zu diskutieren, herauszufinden, was die „Roma-Literatur“ ist oder sein soll, von wem und für wen sie geschrieben wird. Diesen Artikel hätte man auch mit den Worten des Künstlers und Mitgestalters des Projekts André J. Raatzsch eröffnen können: „Wenn ich ein Buch in der Hand halte, möchte ich es nicht wegen der ethnischen Herkunft des Autors lesen, sondern wegen des Inhaltes, aufgrund dessen ich meine Sichtweisen hinterfragen kann, aufgrund dessen ich unseren Zeitgeist besser verstehen kann und aufgrund dessen ich mich selbst transformieren kann.“ Was also hatten die Autorinnen und Autoren in ihren ausgewählten Texten mit dem Thema Kindheitserinnerungen in diesem Sinne anzubieten?
Der Übersetzer, Dichter und Pädagoge Gusztáv Nagy (*1953, Pusztaföldvár, Ungarn) erzählte in seiner Erzählung Sieben rote Äpfel von seinem Vater, der 1956 im Zuge der verschärften Polizeikontrollen nach dem ungarischen Volksaufstand festgenommen wurde und für ein Jahr lang verschwand. Seine Schilderung der Angst und der Hilflosigkeit der Familie widerspiegelte die angespannte und unsichere Atmosphäre Ungarns in den 1950er Jahren. In seiner zweiten Erzählung Wahrsagerin griff er das Klischee einer Romni mit Zauberkräften auf – um es mit seiner Erläuterung zu brechen, dass die Wahrsagerei für seine Tante einen Beruf mit hohen Ansprüchen an Kommunikationsfähigkeit und Menschenkentnisse darstellte.
Die Erzählungen Die Stiefel und Rotznaßiges Mädchen, hübsch zurechtgemacht der Journalistin, Sozialarbeiterin und Übersetzerin Eva Danišová (*1959, Ústí nad Orlicí, Tschechien) waren getragen von der Liebe und dem Respekt für ihre Großmutter, eine kernige Frau, die das Herz am richtigen Fleck hat. Auch in diesen Werken wurde das Publikum mit einer Frau konfrontiert, die aus der Sicht der mittelständischen Mehrheitsgesellschaft unverständlich, ja fast narrisch handelt. Doch die Texte von Eva Danišová zeigten auch eine andere Sichtweise auf – den Gesichtspunkt der Enkelin, die über die Familiengeschichte und historische Zusammenhänge Bescheid weiß.
Maroš Balog (*1976, Košice, Slowakei), Referent der slowakischen Regierung für die Roma-Minderheit, las aus derErzählung über sein großes Vorbild, einen hart arbeitenden Rom, der alles für die Familie tut – seinen Vater. Darüber hinaus klärte sein Text über die Entwicklungen der letzten dreisig Jahre in der Slowakei auf, die das Leben der Roma in diesem Land maßgeblich prägten.
Von seinem politischen Text unterscheidete sich die intime Lyrik der jüngsten Autorin der Lesereihe, Renáta Berkyová (*1985, Rimavská Sobota, Slowakei). Ihre Verse faszinierten durch ihre einfachen und gerade deshalb beeindruckenden Schilderungen von alltäglichen, nicht selten emotional angespannten Augenblicken, die uns allen nicht unbekannt sind.
Der Übersetzer, Dichter und Pädagoge József Choli Daróczi (* 1939, Benö, Ungarn) eröffnete die Lesungen in Düsseldorf, Bremen und Achim mit seinem so traurigen wie schockierenden Gedicht Die Zigeuner wurden verschleppt, mit dem er gleich am Anfang den Lesern deutlich gemachte, wie wenig präsent das Bewusstsein über die Geschichte der Roma in Europa oft ist. Danach erzählte er in der märchenhaften Erzählung Fluch über uns eine Legende vom “Schicksal der Roma”, in der ein Teufel “den Roma” die Bürde auferlegt, für immer ihr Brot mit Lügen zu verdienen.
Auch für die Texte der letzten Autorin, Jana Hejkrlíková (*1959, Toužim, Tschechien), stellten Gott, Teufel und der Glaube tragende Momente dar – dem war auch in ihrer Kurzgeschichte Was ich von meiner Oma gelernt habe so, in der sie die moralischen Werte und die traditionelle Spiritualität ihrer Oma auf ein Podest stellte, ohne dabei ihren frischen und kritischen Blick auf die Gegenwart zu verlieren.
Aus dem Klischee wurde Überlebenskunst, aus dem Fremden ein Teil der Familie, die “kleinen Menschen” entpuppten sich als die wahren Helden unseres Lebens, die Geschichte einer Roma-Familie widerspiegelte die nationale Geschichte Ungarns. All das gehört zur Literatur “der Roma”. “DER Roma” in Anführungszeichen, denn die vorgestellten Texte, Autorinnen und Autoren zeigen durch ihre Vielfalt, Individualität und Einzigartigkeit, wie fragwürdig es ist, über die Gruppe DER Roma zu sprechen. Natürlich halten die Autorinnen und Autoren in ihren Werken auch ihre Roma-Identität fest, wie sich beispielsweise Eva Danišová während der Lesung in Berlin äußerte. Aber man darf nicht vergessen, dass es nicht ihre einzige Identität ist.
Und so, als würden die Vertreter der verschiedenen Generationen die Worte von André J. Raatzsch bestätigen wollen: sie nahmen das Publikum mit auf eine Reise, nicht nur in neue Gedankenwelten, sondern vor allem auf eine Reise durch Europa und seine Geschichte. Wie jegliche literarische und allgemein künstlerische Produktion reflektieren auch die Werke der präsentierten Autorinnen und Autoren die Umwelt, das, wie Europa war und ist, und vielleicht auch das, wie Europa in der Zukunft aussehen wird. Auch deswegen wurden einige Leseabende mit einem Gedicht von Gusztáv Nagy abgerundet, das wir gerne auch den Leserinnen und Lesern hier anbieten möchten:
Lass mich herein
Lass mich herein, wenn ich klopfe
fürchte nicht meine infizierte Vergangenheit
das Serum habe ich längst vom Dasein bekommen
damit ich rede, sehe, erwache
anders als damals
an den Hügeln von Marie Therese
als sie den Tod auf unseren Amboss schmiedeten
oder unsere Zunge schnitten
die nicht lieb war –
wie die von feinen Aristokraten
Ungarns.
Lass mich herein, wenn ich klopfe
ich zittere nicht mehr an deiner Schwelle
Mutter Europa.
Auch die Presse fand an den Lesereihen ein großes Interesse, wiederspiegelte aber gleichzeitig, wie verzerrt manchmal die Wahrnehmung “der Roma” ist: So wurde beispielsweise in einem Artikel der Satz Jana Hejkrlíkovás: “Es ist für uns selbstverständlich, anderen Menschen zu Essen und zu Trinken geben” so umgedreht, dass es für die Roma “selbstverständlich sei, sich Essen zu nehmen”. Was eigentlich zwei Seiten einer Medaille sind, produziert in der Zeitung ein ganz anderes Bild “der Roma”. Auch deswegen sehen wir das Projekt “Roma-Autoren erzählen …” als den ersten Schritt eines langen Prozesses der literarischen Emanzipation der Roma und des Kampfes um eine größere Anerkennung dieser Literaten als eines Teiles der europäischen Literatur.
Zum Pressespiegel der Lesereihen hier.